Buch-Rezension: „I’m a Nurse“ von Franziska Böhler & Jarka Kubsova

Pflegenotstand. Personalmangel. Gesperrte Betten. Patientengefährdung. Das sind Begrifflichkeiten, die spätestens seit der Corona-Pandemie jedem Menschen in unserem Land geläufig sein sollten. Heute schauen wir in ein Sachbuch, dass die Hintergründe beleuchtet und den Pflegeberuf in den Fokus stellt.

Die Pflege. Pflegebedürftigkeit. Bettenmangel. Pflegekrise. Bettensperrungen. Versorgungsengpass. Pflegeprofession. Heilkundeübertragung. Pflegefachkraft. Pflegeausbildung. Patientengefährdung.

Pflegenotstand.

 

Kommen dir diese Begrifflichkeiten bekannt vor?

 

Wenn nicht, hast du wahrscheinlich die letzten Jahre in einem Erdloch verbracht, die Pandemie nicht miterlebt und in deinem Umkreis niemanden, der in den vergangenen Jahren Kinder geboren und Angehörige gepflegt hat oder du warst selbst bisher nicht auf ärztliche und pflegerische Versorgung angewiesen.

Denn die Pflegekrise ist real. Und das auch nicht erst seit der Pandemie. Diese war nur die Lupe, quasi das Brennglas, das den Fokus auf die Gesundheitsversorgung im Allgemeinen und die Situation der Pflegeprofession im Speziellen gelenkt hat.

So ähnlich formuliert es auch Franziska Böhler in ihrem 2020 erschienenen Sachbuch „I’m a Nurse – Warum ich meinen Beruf als Krankenschwester liebe – trotz allem“.

In dem 256 Seiten umfassenden Taschenbuch, welches im HEYNE Verlag erschienen ist, wird der Leser zum beobachtenden und lernenden Besucher im Gesundheitswesen. Franziska Böhler und Jarka Kubsova nehmen diesen Besucher, den interessierten Leser mit und führen ihn durch elementare Bereiche der innerklinischen Versorgungsstrukturen. Und da der große Themenbereich Pflege schon mit der Geburt eines Kindes beginnt, wird auch hier die Rundreise gestartet. Mit Stopps in der Pädiatrie, der Versorgung im Alter, der palliativen Versorgung in Situationen endender medizinischer Möglichkeiten bis hin zum Perspektivwechsel in die eigene Abhängigkeit von Pflege im Krankheitsfall. Und auch der Umgang mit dem Tod wird mit eingeflochten.

 

 

Wie der Klappentext des Buches über die erste von beiden Autorinnen verrät, ist die 36-jährige Franziska Böhler seit 2007 im Gesundheitswesen als Krankenschwester tätig. Viele Jahre davon arbeitet sie auf einer anästhesiologisch geführten Intensivstation in der Nähe von Frankfurt am Main, wird Mutter zweier Kinder und entscheidet sich 11 Jahre später in die ambulante Anästhesie zu wechseln. Als Pflege-Influencerin hat sich Frau Böhler unter dem Namen @thefabulousfranzi über Instagram einen Namen gemacht, seitdem sie 2017 den ersten Post in Dienstkleidung hochlud und über ihre Unzufriedenheit mit der pflegerischen Situation im Krankenhaus, aus der Sicht einer Pflegefachkraft, schrieb. Dieser Frust-Post fand viel Anklang, führte zu vielen Gesprächen und legte den Grundstein für eine stetig wachsende Followerschaft von mittlerweile 253.000 Menschen. Frau Böhler thematisiert bis heute dort pflegerelevante Themen, setzt sich für Long-Covid-Betroffene und Auszubildende in der Pflege ein und wird nicht müde, den Pflegenotstand immer wieder in Erinnerung zu rufen.

Jarka Kubsova, die zweite Autorin im Bunde, ist ebenfalls Krankenschwester. Ihr Examen absolvierte sie 1997, jedoch blieb sie dem Pflegeberuf nicht lange erhalten. Vom System desillusioniert erlernte sie einen anderen Beruf und studierte Soziologie und Sozialökonomie. Sie arbeitete als Reporterin für die Financial Times Deutschland, sowie für den Stern und die ZEIT. Zudem ist sie Ghostwriterin mehrerer Sachbücher.

 

Worum geht’s nun in „I’m a nurse – Warum ich meinen Beruf als Krankenschwester liebe – trotz allem“?

 

In erster Linie geht es um genau das: dieses „trotz allem“. Frau Böhler legt mit diesem Buch den Finger in die Wunde und zeigt an verschiedenen Beispielen und Fachbereichen auf, wie sich der Pflegefachkraftmangel dort manifestiert hat und welche Konsequenzen dieser sowohl für die Patient*innen, aber eben auch für das Pflegepersonal in den Bereichen hat.

Sie führt sachlich und gut strukturiert auf Basis eigener Erfahrungen und mit Hilfe von Erzählungen von Kolleg*innen aus der Pflegeprofession, Patient*innen und Follower*innen durch verschiedene Lebensstationen, angefangen von der Geburtshilfe über die geriatrische Versorgung, vom Hebammenmangel bis zum fragwürdigen gesellschaftlichen Umgang mit alten Menschen. Auch die Pädiatrie und das Problem der schwindenden Versorgungskapazitäten in diesem Bereich, beleuchtet das Buch eindrücklich.

Es werden auch ganz klare Lösungsvorschläge gemacht. So wünscht sich Böhler eine Mindestbesetzung in den Schichten, die sich am tatsächlichen Bedarf orientiert und einen Mitarbeiterpool in den Kliniken, der eine überwiegend gute Versorgung sicherstellt. Ebenso plädiert sie für Rufbereitschaften in allen Fachbereichen, um Versorgungsspitzen abzufangen oder für eine feste therapeutische Bandbreite auf jeder Station, die das Team und vor allem die Patient*innen unterstützen soll. Zudem hält sie Stationshilfen mit der Verantwortung über das Stationstelefon und als Hoheit über administrative Tätigkeiten, wie Apotheken- und Stationsbestellungen und die Dokumentation rund um Aufnahmen und Entlassungen für sinnvoll.

 

Mein Fazit zu diesem Buch:

 

Die Pflegekrise ist kein Allerweltsthema. Obwohl es das sein könnte, den sie betrifft ausnahmslos ALLE in der Gesellschaft. Die Pflegekrise ist kein Thema, dass sich schön verpacken lässt. Im Gegenteil. Wird die Dramatik der Pflegekrise nicht anhand von nachfühlbaren Situationen geschildert, die für den Lesenden gleichermaßen packend und dennoch emotional erschütternd sind, interessiert sie niemanden. Und aus genau diesem Grund sind oftmals die reißerischsten Postings, Erzählungen, Reels und Storys die, die am meisten Engagement generieren. Mit diesem Wissen war klar, dass Frau Böhlers Sachbuch keineswegs wertfrei und rein sachlich geschrieben sein kann. Und ganz ehrlich, das braucht in diesem Zusammenhang auch niemand. Denn allein der Titel verrät schon, dass das Buch inhaltlich eine persönliche Erfahrungsgeschichte widerspiegeln und kein wissenschaftliches Sachbuch sein wird.

Mit „I’m a nurse“ ist es beiden Autorinnen gelungen, in einer lockeren und dennoch ernsten, sachlichen Schreibweise die von Frau Böhler am dringendsten empfunden Schwachstellen des Gesundheitssystems zu beleuchten. Ich fühlte mich trotz der emotionalen und oft auch schwierigen Thematik während des Lesens gut unterhalten und hatte nicht das Gefühl ein reines Sachbuch zu lesen. Ich bin selbst seit vielen Jahren im Pflegeberuf tätig, habe sogar auf einem sehr ähnlichen Weg wie Frau Böhler meine Faszination für diesen Beruf entdeckt und kenne eine Vielzahl der geschilderten Situationen aus meinem eigenen Werdegang. Und dennoch: Zu lesen, wie eine andere Pflegekraft diese Grenzsituationen beschreibt, hat mich schon sehr berührt. So sehr, dass ich bei manchen Schilderungen das Buch für einen Moment zur Seite legen musste, weil mich die Emotionalität packte und ich meine eigenen Erlebnisse reflektierte und erstmal tief durchatmen musste. Und in dem Wissen, dass es wahrscheinlich sehr sehr vielen Kolleg*innen da draußen genauso geht, wächst irgendwie auch die Wut auf das System und darüber, dass sich auch 3 Jahre nach dem Erscheinen des Buches in puncto Pflege nicht viel verändert hat.

Gefreut hat mich, dass auch der Blick auf den Pflegenachwuchs in diesem Buch nicht fehlte. Die Einführung der generalistischen Ausbildung sieht Frau Böhler ähnlich kritisch wie ich das tue und es bleibt abzuwarten, inwiefern sich unsere Befürchtungen langfristig bewahrheiten werden oder nicht. Und auch, wenn in diesem Buch viel darüber geschrieben wird, was falsch läuft, finden sich aber auch regelmäßige Liebesbekundungen an den Pflegeberuf im Buch wieder. Denn es ist nicht der Beruf, der die schlechten Arbeitsbedingungen und die Probleme verursacht. Es ist das System, dass die Pflege ausbrennen lässt.

 

 

Zu guter letzte thematisiert Böhler auch die Position der Angehörigen. Jeder, der schon mal selbst Angehöriger eines Patienten war, weiß, dass diese Position in Zeiten des akuten Pflegefachkraftmangels eine höchst schwierige und zumeist sehr unbefriedigende ist. Und jede Pflegekraft, die selbst Angehörige ist, weiß das noch 3x mehr.

Ich habe im Vorfeld viele andere Rezensionen zu diesem Buch gelesen. Immer wieder kam der Kritikpunkt, dass die Lösungsvorschläge fehlen. Ich frage mich ehrlicherweise, warum von einer Person die ultimative Lösung verlangt wird, zu der Politiker*innen seit Jahren nicht in der Lage sind. Zudem der Titel des Buches und auch der Aufbau eine Lösungserwartung gar nicht hergeben.

Ich für meinen Teil habe nur einen Kritikpunkt an Böhlers Buch. Und das ist der, dass mir in dem Buch der Aspekt fehlt, dass wir Pflegefachkräfte ein wesentlicher Teil des Problems sind. Dass wir zu lange an Politik und Gesellschaft eine Erwartungshaltung gefestigt haben, ohne Eigeninitiative zu zeigen und Teil des Veränderungsprozesses zu sein. Der Großteil der Pflegefachpersonen hat von Berufspolitik und den Möglichkeiten, die diese unserem Beruf eröffnen könnten, würden sich alle damit auseinandersetzen, keinen blassen Schimmer. Und ich hätte mir in diesem Buch als Fazit einen Appell an die eigene Berufsgruppe gewünscht, für sich selbst einzustehen und gemeinsam die Pflege wieder in Arbeitsbedingungen zu steuern, die auch ein Arbeiten mit 60 Jahren noch wahrscheinlich erscheinen lassen.

 

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